Kossack's Conclusions

From: tgpedersen
Message: 55393
Date: 2008-03-17

Georg Kossack:
Archäologisches zur frühgermanischen Besiedlung
zwischen Main und
Nordsee, pp. 103-104
in Kossack, Hachmann, Kuhn:
Völker zwischen Germanen und Kelten

"
FOLGERUNGEN
Die Ereignisse müssen im westlichen Norddeutschland einen anderen
Verlauf genommen haben. Eine einheitliche, flächenhafte Bewegung läßt
sich hier wohl nicht annehmen, auch nicht allein
elbgermanisch-suebische Bevölkerung als Träger dieser Unternehmen.
Ferner war der Raum, in dem die Frühgermanen sich nun mit
selbständigen Ausdrucksformen bemerkbar machen, während der
Spätlatènezeit bei weitem nicht so einheitlich wie der Bereich der
spätkeltischen Oppida, bemerkenswerterweise selbst dort nicht, wo
zentrale Marktorte nach keltischem Muster nivellierend hätten wirken
können. Diese Mannigfaltigkeit dürfte also tiefere Gründe haben, zumal
die Einzelgruppen ja nicht nur im Formalen materieller Güter
voneinander abweichen, sondern auch im Gefüge der Kultur. Was
verbindet schon die Marschenbauern an der Küste mit den merkwürdig
starr in alten Traditionen verharrenden Bewohnern der Geestinseln
zwischen Ems und Weser, diese mit der Bevölkerung am Nordrand des
Gebirges in Brabant und am Niederrhein und sie alle schließlich mit
den Gruppen im Schiefergebirge, den Eisenhüttenleuten im Siegerland,
den Bewohnern der befestigten Plätze, und den Salzsiedern und Bauern
in der Wetterau? Sie alle sind archäologisch weder Germanen noch
Kelten. Sie bieten eine Skala teils noch prähistorischer, teils schon
frühgeschichtlicher Kulturen, von denen die einen im Norden keinen
Anteil mehr am Kernkreis suebischer Germanen hatten, während die
anderen im Süden nicht mehr in allen ihren Lebensformen zur
Oppidakultur der späten Festlandskelten gehören. So kontrastreich in
Einzelheiten die kulturellen Zeugnisse, so differenziert hat man sich
vermutlich auch die Bevölkerungsverhältnisse im nordmainischen
Westdeutschland vorzustellen. Keine dieser Gruppen hat schließlich
Suebeneinfälle wie Römerkriege so zu überdauern vermocht, daß sie die
kaiserzeitliche Kultur entscheidend hätte gestalten können. Erst die
frühgermanische Schicht der Neubildungen bringt sie einem Ferment
gleich noch einmal zur Wirkung, über die Lebensdauer hinaus, die jeder
von ihnen beschieden war. Wie das im einzelnen vor sich ging, bleibt
vor allem im norddeutschen Tiefland westlich der Weser ungeklärt, da
wir weder die Bedeutung jastorfartigen Fremdgutes im Bereich der
Harpstedt-Nienburger Gesamtkultur noch deren Verhältnis zur
kaiserzeitlichen Kultur dieses Raumes kennen, die hier ungleich viel
später einzusetzen scheint als anderwärts.
Die Spekulation beginnt, sobald man den archäologischen Sachverhalt
einfügen will in den geschichtlichen Rahmen, den die Schriftquellen
abstecken. Wir haben dabei auszugehen von der Datierung der
frühgermanischen Schicht in die Zeit um und nach Christi Geburt, also
in diejenige Periode, in der die römische Okkupation rechtsrheinischer
Gebiete so gut wie zu Ende ist. Nicht letztlich siegreich, wie die
Niederlage der Varianischen Legionen zeigt, wohl aber insofern mit
schweren Folgen, als die autochthone Bevölkerung unmittelbar rechts
des Rheins entweder umgesiedelt oder in ihrem Bestande fühlbar
geschwächt oder gar ausgerottet ist. Archäologisch gesehen, richtet
sich dieses Zerstörungswerk zunächst und vor allem gegen die
heimischen Siedlergruppen im Wirkungsbereich der spätkeltischen
Oppidakultur und ihre nördlichen Nachbarn. Sprachkundlich gefaßt gegen
Gemeinschaften, deren Namengut entweder sicher nicht oder nicht
zwingend germanisch ist, obgleich die Schriftquellen selbst wohl seit
Poseidonios sie Germanen nennen. Die Okkupationslinien, abgesteckt
durch Marschlager oder feste Lager zur Überwinterung der Truppen,
stimmen bemerkenswerterweise mit denjenigen Zonen überein, in denen
sich die frühgermanische Schicht zeitlich am ehesten bemerkbar macht:
im Lippetal und von der Wetterau nordwärts bis zur Weser (vgl. Karte
7). Man hat sich deshalb gefragt, ob nicht die römischen
Angriffskriege zum Teil nur eine Reaktion darstellten auf jene
germanischen, ost-westlich gerichteten Bewegungen. Aber das setzte
voraus, daß man den frühgermanischen Fundstoff Nordwestdeutschlands in
die Zeit vor Drusus datierte, was jedoch nach der hier vertretenen
Chronologie, die für unsere Schlußfolgerungen entscheidende Bedeutung
hat, schwerlich möglich ist. Wohl aber kann man die Ausbreitung
unseres Fundstoffs als mittelbare Folge solcher Bewegungen betrachten,
und zwar in dem Sinne, daß sich die Germanen erst durchsetzen können,
als einerseits die ansässige Bevölkerung durch die römischen Feldzüge
biologisch und kulturell geschwächt ist und andererseits die
Niederlage des Varus nicht nur ihr Ansehen festigt, sondern ihnen nun
auch die Möglichkeit zur Herrschaft gibt. Es scheint deshalb, daß
dieser Niederlage, die man bisher stets als Befreiung eines Landes
wertete, das seit alters her germanisch war, eine ungleich größere
Bedeutung für die frühe Geschichte unseres Vaterlandes zukommt.
Anscheinend erst jetzt setzt bis zum Main und zum Rhein hin
germanische Dauersiedlung ein, wo das Zerstörungswerk der römischen
Truppen ein Vakuum zur Folge hatte, erst jetzt kommt germanisches
Kulturgut zum Durchbruch. Des Arminius Sieg und später die Abberufung
der Legionen verhindern, wie man weiß, daß das Land ostwärts des
Rheins zur römischen Provinz wird. Aber ebenso bedeutungsvoll scheint
es doch auch zu sein, daß diese Ereignisse es überhaupt erst
"germanisch" machen, nachdem Rom durch die Zerstörung des letzten
Bollwerks gegen die Germanen, der im Lande heimischen Bevölkerung,
selber den Weg dazu bereitet hat.
"

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Torsten